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Vergessen

14.02.2019

  So funktioniert unser Gehirn

Warum wir vergessen

Wir vergessen Geburtstage, verlegen Schlüssel und erinnern uns nicht mehr, wo wir das Auto geparkt haben. Wir treffen einen alten Bekannten und der Name fällt uns partout nicht ein... Wissen Sie, wie viele Menschen auf dem Spielstraßenschild abgebildet sind oder wie ein 10-Cent-Stück auf der Rückseite aussieht? Keine Sorge: Sie haben nichts vergessen, sondern können sich nur nicht erinnern – das ist ein Unterschied.

Das Vergessen wird häufig als Schwäche oder Fehlfunktion des Gedächtnisses begriffen. Wie oft haben wir uns dabei ertappt, sich an etwas nicht zu erinnern zu können: Adressen, Gesichter, Fakten. Wir sprechen dann davon, dass unser Gedächtnis löchrig wie ein Sieb ist oder verweisen gleich auf den „Morbus“, gemeint „Morbus Alzheimer“, wie war doch noch dessen Vorname ...?

Der Spruch: „... das kannst du vergessen“ bedeutet umgangssprachlich: das taugt nichts, das ist wertlos, es hat keinen Sinn. Und damit zeigt sich, dass unsere Sprache recht präzise die Dinge benennt. Wertloses kann man demnach vergessen! Und schon sind wir bei unserem Denkorgan, das gerne vergisst. Ursache derartiger Fehlleistungen des Gehirns ist das Bemühen, sich nur das Wesentliche zu merken. Das Vergessen gilt oft als Feind des Lernens und so mancher selbsternannte Gedächtnistrainer will unser Oberstübchen zum Fitnesstudio umrüsten. Dabei gehören lernen und vergessen eng zusammen. Wobei man betonen muss, dass lernen nicht nur geschieht, wenn man eine Schule oder Universität betritt. Das Gehirn nimmt ständig Informationen auf, versucht aber, diese zu gewichten, wobei die Quelle der Erinnerung versenkt wird. So wissen wir zwar, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist, aber kaum jemand wird sich daran erinnern, wann und wo er das gelernt hat. Verantwortlich für diesen geistigen Filter ist der „Neuigkeitsdetektor“, der Hippocampus. Alles, was zu einem späteren Zeitpunkt erinnert werden soll, wird dort vorübergehend aufbewahrt. Spätestens im Schlaf überprüft der Hippocampus, ob eine längerfristige Speicherung nützlich ist. Nur das, was Im Gestrüpp der Informationen Nutzen verspricht oder emotional berührt, wird gespeichert. Das Gehirn ist eben keine Erinnerungsmaschine

Dummy

Vergessen um zu behalten

Das Gedächtnis bündelt die Informationen thematisch, bildet Kategorien und fügt alles zu einem stimmigen Bild zusammen, das mit der aktuellen Bedürfnislage und unseren übergeordneten Handlungszielen in Einklang steht. Das erklärt auch, warum Schlüsselreize große Erinnerungsbrocken hervorrufen können: ein bestimmter Song erinnert zum Beispiel an die erste Liebe, der Duft von Kuchen bringt die Großmutter in Erinnerung, ein bestimmter Geschmack führt dazu, dass ein ganzer Abend in einem Restaurant vor dem geistigen Auge auftaucht.

 

Die Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich. Honoré de Balzac

  Unsere Erinnerungen ändern sich mit jedem Abruf

Vergessen um zu behalten

Das Gehirn ist nicht dazu gemacht, sich alles für immer zu merken. Vergessen ist notwendig, um den Alltag zu meistern. Trifft eine neue Information auf unser Nervennetzwerk, ändern die Zellen ihre Verknüpfungen. Nervenzellen sind die Bausteine des Denkens, und Denken ist kein statisches Ereignis, sondern ein sich stets wandelnder Prozess. Kontaktstellen werden angepasst und Erinnerungen werden ständig verändert.

Auch wenn wir uns erinnern, können wir unserem Gehirn nicht trauen. Wir vergessen nicht nur, wir verfälschen, verändern, verformen unsere Erinnerungen wie eine Knetmasse und werfen durcheinander, wer was wann gesagt hat. So kann sich eine problematische Schulzeit in einen glücklichen Lebensabschnitt wandeln, so kann ein Stinkstiefel zu einer sympathischen Person mutieren, und ein Unglück zum Startschuss einer seit Langem ersehnten Veränderung werden. Mit jedem Abruf werden Erinnerungen situativ angepasst. Menschen nehmen ohnehin ihre Umwelt selektiv wahr, und dieser Prozess wird bei der Speicherung offenbar fortgesetzt. Täglich strömt eine gigantische Vielfalt an Reizen auf uns ein, doch nur ein Bruchteil davon hinterlässt langfristig Spuren im Gehirn. Von den 11 Millionen Bits, die pro Sekunde auf uns einprasseln, sind uns lediglich 40 Bits bewusst. Irrelevante Informationen werden meist aussortiert. Ob sie gelöscht werden oder nur der Zugang erschwert wird, ist noch unklar. Das sogenannte False-Memory-Syndrom hat gezeigt, dass sogar falsche Erinnerungen erzeugt werden können wenn Ereignisse abgespeichert und aufgerufen werden. Bei der Wiedergabe der Informationen haben sich im Detail bereits Änderungen eingeschlichen, die – wenn weiter darüber nachgedacht wurde – sich auch noch verfestigten können. Das kann ungeahnte, fatale Folgen vor Gericht oder in der Psychiatrie haben: wir erinnern uns an etwas, das es nie gab. Bemerkenswert ist, dass viele Fehlleistungen offenbar den Zweck hatten, das Selbstwertgefühl zu steigern. Wir glauben, dass wir in der Schule bessere Noten hatten, dass unsere Kinder früher laufen und sprechen konnten oder dass wir unsere Stimme abgegeben haben in Wahlen, an denen wir gar nicht teilgenommen haben.

Jeder Zugriff auf das Gedächtnis geht also auch immer mit einer emotionalen Bewertung der gespeicherten Informationen einher, und – keine Überraschung – ein gutes Gefühl ist stets besser als ein schlechtes. Dafür sorgt unser Gehirn.

So können "vergessene" Inhalte wieder erlangt werden:

Sie wollen Ihre Fremdsprachkenntnisse wiederauffrischen? Nehmen Sie die damals genutzten Bücher – falls Sie diese noch haben ...

Von Hand notierte Dinge merken wir uns besser als getippte. Da wir mit Stift und Papier nicht schnell genug schreiben können, sind wir gezwungen zu überlegen, wie wir den Stoff sinnvoll verdichten können. Dadurch werden die Inhalte tiefer verarbeitet.

Je mehr Verknüpfungen im Nervennetzwerk bestehen, desto eher können Sie sich zu den gesuchten Informationen vorhangeln. Versuchen Sie Neues mit bereits Vorhandenem zu verknüpfen, strukturieren Sie Dinge mit Inhaltsverzeichnis, Trennblättern, Textmarkern, schreiben und sprechen Sie die Informationen, malen Sie Bilder im Kopf. Verschüttetes muss immer wieder aufgerufen werden, egal ob Namen, Zusammenhänge oder Vokabeln. So wird aus einem Erinnerungspfad eine mehrspurige Autobahn.

Eines sollten wir uns klar machen, unser Gedächtnis wird jeden Tag neu geboren. Elisabeth Loftus