In der Ruhe liegt die Kraft

Was tut das Gehirn, wenn es nichts tut?

Auf die Frage, wann man die besten Ideen hat, antwortet die meisten Menschen: beim Joggen, beim Duschen, beim Autofahren. Also in einem Zustand, der mit Ideenfindung zunächst einmal nichts zu tun hat.  

Nun ein kleines Experiment: Schließen Sie bitte Ihre Augen und versuchen Sie, an nichts zu denken. Nein, nicht an etwas denken, sondern an nichts! Hat es geklappt? Ich vermute, es ist nicht gelungen. An gar nichts zu denken, ist sehr schwer oder besser, es ist unmöglich. Ständig geistern Gedanken durch unseren Kopf: ich wollte noch eine Einkaufsliste schreiben. Warum hat die Nachbarin das getan? Was meinte Herr Schmidt gestern als er mir sagte, er fände meinen Vorschlag gut. Ich hatte mir vorgenommen, noch das letzte Kapitel des Buches zu lesen, ständig werde ich abgelenkt. Endlos spinnt sich der Faden durch das Gewirr der Assoziationen. Auch eine Badewanne ist ein beliebter Ort für kreative Gedankenwanderungen. Wir liegen entspannt im warmen Badewasser und lassen den Geist plätschern. Wie Archmides, dem sich beim Baden das Verhältnis von Volumen und Verdrängung offenbarte. Auch in der Natur geht es: Oder wie Isaac Newton, der im Sommer 1665 in seinem Garten dahindöste, als sich ein Apfel vom Baum löst und senkrecht zur Erde fällt.  Der Wissenschaftler zieht daraus den Schluss, dass die Erde offenbar eine Anziehungskraft besitzt. Newton hat das allgemeine Gravitationsgesetz gefunden.

Es sind die Fantasten, die die Welt verändern, und nicht die Erbsenzähler.

Sebastian Fitzek

Unser Gehirn ruht nie, einen Pausenmodus kennt unser Denkorgan nicht. Psychologen schätzen, dass wir etwa 50 Prozent unserer wachen Zeit mit Tagträumen verbringen. Was tut das Gehirn, wenn wir nichts tun?

Ein Mann und eine Frau mit Flügeln

Gedanken fliegen lassen

Der US-amerikanische Radiologe Dr. Marcus Raichle von der Washingtoner Universität in St. Luis stieß 2001 auf ein sonderbares Phänomen. In einer Untersuchung schob der Wissenschaftler Probanden in ein Hirnscanner und gab die Anweisung, den Geist ruhen zu lassen. Wer scheinbar untätig an nichts denkt, dessen Gehirn demnach nichts tut, aktiviert ein Netzwerk von Arealen, das „default mode network“ (DMN) oder Ruhemodusnetzwerk genannt wird. Dieses Netzwerk besteht aus neuronalen Schaltstellen, die beim Tagträumen vermehrt aktiv werden. Der Umfang des Netzwerkes, das aus Gehirnregionen, die weiträumig voneinander entfernt im Gehirn verteilt sind, beeinflusst unter anderem, wie kreativ eine Person ist und wie weit sie die Perspektive anderer einnehmen kann.

Balance zwischen gerichteter Aufmerksamkeit und Gedankenwandern

Ruhemodusnetzwerk fördert Kreativität

Viele Menschen verspüren beim geistigen Verreisen ein gewisses Unbehagen, weil sie sich darüber ärgern, Zeit verschwendet und „nichts Vernünftiges“ getan und zu haben. Neurowissenschaftler betonen allerding, dass die mentalen Auszeiten bestens geeignet sind, neue Ideen aufzuspüren, Pläne zu schmieden oder Gegenstände auf ungewohnte Weise zu nutzen. In zahlreichen Studien konnte die Aktivität dieses Tagtraum-Modus in Zusammenhang mit Kreativität, Problemlösungen, intuitiven Erkenntnissen und spontanen Einfällen gebracht werden. Die Neurowissenschaftler haben demnach auch hier etwas entdeckt, das wir schon seit langem in unserem Alltagsgeschehen erlebt haben und kennen. Wir sitzen am Schreibtisch, wälzen vergeblich mehrere Alternativen einer Problemlösung im Geiste hin und her und gehen entnervt erst einmal Joggen. Kaum haben wir die Routine beim Arbeiten verlassen, ploppt jene zündende Idee auf, nach der wir bislang vergebens gesucht hatten. Rhythmische Bewegungen wie zum Beispiel das Joggen erleichtern dem Gehirn, zwischen zwei Arbeitsmodi zu wechseln, von der Konzentration auf ein Detail zu einem Weiten des Blickwinkels.

Die Fehlerfreien erobern keine neuen Welten.

Dr. Henning Beck

Warum beginnt unser Gehirn genau dann zu arbeiten, wenn wir nicht zielgerichtet denken?

Weil wir intensiv damit beschäftigt sind, die durch unsere fünf Sinne eintreffenden Reize zu verarbeiten, wir haben also alle Hände oder besser alle Synapsen voll zu tun, die Eindrücke einzuordnen, zu speichern, zu verwerfen. Wenn wir die Gedanken treiben lassen, und das Gehirn nicht durch Umweltreize beansprucht wird, entsteht „Platz“, um das, was in unserem Hirn ungeordnet herumschwirrt, zu sortieren. Wie der Neurowissenschaftler Gerhard Roth einmal beschreibt, ist das Gehirn überwiegend mit sich selbst beschäftigt. Im visuellen System werden nur etwa zehn Prozent der Aktivität der Retina zugeschrieben, der „Rest“ entfällt auf die interne Verarbeitung. Das Ruhemodusnetzwerk bildet augenscheinlich den inneren Zustand des Gehirns ab. Und dieser Zustand geschieht ohne unser bewusstes Zutun und ist nicht steuerbar. Entspanntes Tagträumen, richtungsloses Umherspinnen und zielloses Sinnieren erreichen wir nur, wenn wir uns vom Primat der 100prozentigen Produktivität auch einmal verabschieden und die dauerhafte Betriebsamkeit in Frage stellen, die uns oft daran hindert, neue Wege zu beschreiten. 

Sie können sich bewusste Auszeiten gönnen und das Rampenlicht Ihrer Aufmerksamkeit herunter dimmen. Gucken Sie wie abwesend in die Luft, aus dem Fenster oder sonst wohin. Lassen Sie Ihren Gedanken freien Lauf, im doppelten Sinne. Gehen Sie laufen oder joggen und lassen Sie sich von Ihren Assoziationen treiben. 

Wichtig ist, eine Balance zwischen Gedankenwandern und gerichteter Aufmerksamkeit zu erreichen.