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Prognosemaschine

26.06.2020

  Kristallkugel?

Die Prognosemaschine in unserem Kopf

In den aktuellen Coronazeiten würden viele Menschen verständlicherweise gerne wissen, was die Zukunft bringt. Wann ist das Virus überwunden, welche Auswirkungen hat die Pandemie auf unsere Wirtschaft, wie entwickelt sich meine persönliche Lage? Einen gesicherten Blick in die Zukunft zu tun, das ist ein Menschheitstraum seit ewigen Zeiten. Doch das bleibt ein Traum. Wir haben keine Kristallkugel im Kopf und ein Besuch bei einem Wahrsager ist so erfolgreich wie der Versuch, mit einer Luftpumpe die Windrichtung zu verändern. Trotzdem ist es überlebenswichtig, gewisse Prognosen treffen zu können. Das Gehirn hält hierfür einige Vorgänge parat.

Angenommen, Sie beabsichtigen zu frühstücken. Sie greifen nach Tasse und Teller und erwarten, dass sich das Geschirr fest und glatt anfühlt. Wenn das so ist, werden Sie diesen Vorgang kaum registrieren. Sind Tasse und Teller jedoch weich und pelzig, wird Ihre Aufmerksamkeit unverzüglich auf das Geschirr gelenkt und Sie fragen sich, was hier los ist. So abwegig das zunächst scheint, Pelztasse und Pelzteller haben einen realen Hintergrund. Die surrealistische Schweizer Künstlerin Meret Oppenheimer (1913-1985) hat 1936 ein Werk mit dem Titel „Frühstück im Pelz“ geschaffen. Mit dieser Skulptur hat die Künstlerin nicht nur eines ihrer bekanntesten Werke geschaffen, sie hat damit auch auf eine Eigenschaft verwiesen, demnach wir bewusst und mit erhöhter Aufmerksamkeit nur jene Dinge und Ereignisse wahrnehmen, die nicht in eine routinierte Erwartungshaltung passen und daher unbemerkt bleiben. Und pelziges Geschirr widerspricht nun wahrlich allen Erfahrungen. Sehr viele Künstler verwenden Materialien, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang genommen und in einen neuen Kontext gestellt werden. Die Absicht dahinter besteht darin, durch etwaige Abweichungen oder Widersprüche auf ein Objekt oder Ereignis aufmerksam zu machen.

Unser Alltag ist geprägt von Ereignissen, deren Fortgang möglichst frühzeitig eingeschätzt werden sollte. Im Straßenverkehr ist es zwingend erforderlich zu wissen, was zukünftig geschieht. Wenn vor uns Bremslichter aufleuchten, müssen wir sehr schnell in die Pedale treten und die Geschwindigkeit drosseln. Wenn ein Fußgänger unseren Weg kreuzt, müssen wir rasch ausweichen. Eine grüne Ampel signalisiert uns loszufahren. Auch bei zahlreichen Sportarten ist es vorteilhaft, die Bewegungsabläufe des Gegners im Vorhinein abzuschätzen und die eigenen Aktivitäten anzupassen.  Ebenso sollten wir wissen, dass ein bestimmter Schalter eine Lampe erleuchten lässt, dass ein Fahrradlenker, den wir nach rechts richten, das Gefährt nach rechts abbiegen lässt oder dass ein Druck auf eine Klingel an der Haustür den Klang eines Tons bewirkt usw. usf. Alle diese Vorgänge geschehen offenbar „automatisch“ und sie sind das Ergebnis unzähliger Lernprozesse

Unser Gehirn, so die Theorie zahlreicher Neurowissenschaftler, stellt laufend Prognosen über zukünftige Ereignisse. Der als „Prediction Coding“ (Vorhersage Codierung) bekannte Ansatz geht davon aus, dass das Gehirn ständig Schlüsse aus den eintreffenden Sinnesinformationen zieht, die so erstellten Vorhersagen an der Realität überprüft und – falls erforderlich – seine Aktivitäten anpasst. Das Gehirn vergleicht seine Erwartungen mit den tatsächlich empfangenen Sinnesdaten. Das Wechselspiel zwischen dem, was unser Gehirn erwartet, und dem, was es tatsächlich empfängt, erlaubt für die Zukunft Fehler zu vermeiden, sie zu reduzieren oder sein eigenes Handeln entsprechend auszurichten. 

Dummy

Wie sieht die Zukunft aus?

Das Gehirn passt seine internen Modelle so an, dass der Vorhersagefehler schrumpft.Karl Friston, Hirnforscher 

 

  wahrnehmen, vorhersagen, korrigieren

Korrektur der Zukunft

Was hat „Prediction Coding“ mit lernen zu tun? Jeder kennt die Redewendung: „Aller Anfang ist schwer.“ Und die eigenen Erfahrungen haben das immer wieder bestätigt. Prof. Dr. Arno Villringer, Direktor am Max-Planck-Institut hat hierfür ein passendes Beispiel beschrieben: „Stellen Sie sich vor, Sie möchten Klavier spielen lernen“, sagt Villringer, „am Anfang sind Ihnen die dafür nötigen Schritte völlig unbekannt, Sie haben keine Ahnung, was passiert, wenn Sie auf eine Taste drücken. Im ersten Moment stellt ein Ton daher einen „prediction error“ dar. Doch mit der Zeit und nach einigen Wiederholungen weiß das Gehirn nicht nur, dass hinter den Tasten Töne stecken – sondern auch welche: Es hat gelernt.“

Die Formulierung von Heraklit (520 – 460 v. Chr.), „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“, gilt auch für unser Gehirn, denn durch die ständige Anpassung an alles, was es tut, wenn Unerwartetes oder Neues geschieht, verändert sich unser Gehirn. Das Gehirn versucht vorherzusagen, was als Nächstes passiert, um angemessen darauf zu reagieren.

Beim Lernprozess geht so mancher Versuch noch schief und das Gehirn meldet „Prediction error“ (Vorhersagefehler).

Um Fehler zukünftig zu vermeiden, passt es sich der neuen Lage an. Der grobe Ablauf des Lernprozesses im Gehirn ist immer gleich: Zu Beginn eines Lernprozesses ist es mühsam, man vertut sich, stolpert, steht wieder auf und versucht es erneut. Mit steigender Anzahl an Wiederholungen sinkt dann aber langsam das Ausmaß an Konzentration, das benötigt wird: Ein Vorgang läuft dann nur noch halb bewusst ab. Übung macht den Meister, so haben wir es oft gehört. Wenn der Vorgang „sitzt“, muss ein Programm dann nur noch angestoßen werden – das Gelernte selbst läuft anschließend mehr oder weniger automatisch ab. 

Haben wir demnach eine „Kristallkugel“ im Kopf, eine Prognosemaschine, die auch Denkleistungen vorhersagt? Wer glaubt, wir könnten irgendwann die Zukunft vorhersagen, irrt. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. An diesem Thema können wir erkennen, wie wichtig weitere Untersuchungen der Neurowissenschaftler sind.

 

Denn der Sinn unseres Gedächtnisses besteht gar nicht darin, das wiederzugeben, was schon war. Er besteht vielmehr darin, dass man im Hier und Jetzt gute Entscheidungen für die Zukunft treffen kann.  Dr. Henning Beck, Buchautor und Neurobiologe